Samstag, 17. September 2011

Time Warp

Viele Menschen wünschen sich durch die Zeit reisen zu können. Historiker träumen davon sich in der Vergangenheit ein direktes Bild einer bestimmten Epoche machen zu können und Antworten auf Fragen finden, die sonst für immer unbeantwortet bleiben würden. Andere wollen bei einer Reise in die Zukunft erfahren, welchen Einfluss die Entscheidungen von Heute auf zukünftige Menschen und Generationen haben werden.
Doch einstweilen sind solche Reisen nur Fiktion und um die Vergangenheit oder die Zukunft einschätzen zu können, müssen wir uns daher weiterhin auf unsere Erfahrung der Gegenwart und die Berichte der Älteren verlassen. 

Ich erinnere mich noch genau, als im Herbst 2004 das neue Türkische Strafgesetzbuch verabschiedet wurde. Für die Frau brachte dies einige Verbesserungen: Sexualstraftaten fielen nicht mehr in den Bereich "Verbrechen gegen die Gesellschaft", sondern "Straftaten, die gegen eine Person gerichtet sind". Damit wurde endlich anerkannt, dass der Körper der Frau der Frau gehört - nicht der Gesellschaft oder ihrer Familie.  

Viele der Änderungen waren mehr als überfällig. Beispielsweise konnte man bis dahin bei sexueller Gewalt an Minderjährigen unter 15 Jahren darauf hoffen, dass diese eingestehen "einvernehmlichen Sex" genossen zu haben. Seit 2004 ist Sex mit Minderjährigen eine Straftat, ohne Wenn und Aber.  

Vergewaltigung in der Ehe ebenso und Morde an Frauen gelten nun auch als Mord und werden auch so geahndet: Bis dahin gab es tatsächlich "mildernde Umstände", weil die Täter anführen konnten, dass sie zur Verteidigung von dem, was sie als "Ehre" bezeichnen, gemordet hatten.  

Und es wurde ein Paragraf abgeschafft, der es Vergewaltigern ermöglichte straffrei auszugehen, wenn sie geloben es wieder zu tun. Und wieder und wieder: Versprach ein Vergewaltiger sein Opfer zu heiraten, dann drohte ihm nämlich keine Strafe. 
Denn: In den Augen der Gesellschaft war die Tat damit ausgeglichen und damit wird auch deutlich, welch wichtiger Schritt es war, dass Sexualstraftaten als Verbrechen gegen die Person, nicht gegen die Gesellschaft oder Familie betrachtet werden. (Frauenrechte)

Natürlich dauert es länger, bis solche Änderungen in der Gesellschaft und in den Köpfen der einzelnen Menschen angekommen können. Letztendlich geht es ja um ein völlig neues Bild der Frau in der Gesellschaft. Das ändert sich nicht von heute auf morgen. 

Von heute auf morgen änderte sich vor allem eines: die Statistiken in Bezug auf Gewalt an Frauen. Zum einen sicherlich, weil immer mehr Frauen den Mut finden und bei Behörden, Staatsanwaltschaft oder Polizei Hilfe suchen. Sicherlich aber auch, weil vieles, was noch vor weniger als einem Jahrzehnt als "normaler Umgang" mit seiner Frau, Schwester, Tochter oder Nichte durchging, heute schlicht und ergreifend ein Verbrechen ist. 

Dabei ist die türkische Justiz bereits hoffnungslos überlastet und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte, wohlgemerkt eine Institution, die dem Justizministerium untersteht, sucht nach Möglichkeiten die Flut von zu bearbeitenden Fällen einzudämmen. Die scheint nun gefunden: Beispielsweise, so heißt es in einem Bericht, könnte man ja Vergewaltigern Straffreiheit anbieten, wenn diese bereits sind, ihre Opfer zu heiraten. Oder Jugendliche unter 15 Jahren fragen, ob sie nicht doch Spass am Sex hatten. Dann müsste man auch keine Fälle mehr verhandeln, in denen es um Kinderbräute geht... 

Als 2004 das neue Türkische Strafgesetzbuch eingeführt wurde, kam ich aus dem Staunen nicht heraus, was es bis dahin alles für unglaublich frauenverachtende Bestimmungen gegeben hatte. Als ich fast genau sieben Jahre später die Meldung über den Bericht des Hohen Rates in der Tageszeitung Radikal lese, kontrolliere ich tatsächlich das Datum. In der Hoffnung, dass ich aus Versehen in die Vergangenheit gereist bin und nicht einen Blick in die Zukunft werfe. 

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