Montag, 5. September 2011

Ramadan oder Opferfest

Sieben Kilometer lang und vier Kilometer breit ist die Insel Avsa im Marmarameer. Für Türken ein beliebtes Urlaubsziel, von der Großstadt Istanbul aus in wenigen Stunden per Fähre zu erreichen und doch mit nur rund 2000 Einwohnern ein beschauliches Paradies und ideal für den Familienurlaub.

Zumindest dachte sich das eine Familie aus Bursa. Nach dem Frühstück konnte ihr einziges Kind Tugra (8) mit dem Fahrrad umherfahren. Doch an diesem einen Morgen verschwand der Junge aus Sichtweite der Eltern und nach wenigen Minuten begannen sie ihn aufgeregt zu suchen. Finden konnten sie ihn nicht, bis eine erlösende Durchsage sie zur Polizeiwache rief. Doch dort war ihr Kind nicht, auch nicht in der Krankenstation, wohin man sie verwiesen hat. Von dort aus wollte man sie ins Kreiskrankenhaus auf dem Festland schicken, doch dann fasste sich wohl jemand ein Herz und verwies an die örtliche Moschee. Dort zeigte man den entsetzten Eltern den Leichnam des Kindes: Mit hundert Sachen hatte eine junge Frau, die keine Fahrerlaubnis besitzt, das Kind überrast.

Statt zu halten, erste Hilfe zu leisten oder welche zu holen, suchten Fahrerin und Beifahrer ihr Heil in der Flucht, nachdem sie das Auto an eine Wand gesetzt hatten. Schließlich fürchtete man gelyncht zu werden. Tugra lag dort also, auf der für den Autoverkehr gesperrten Straße und wartete auf den Tod, der dann auch irgendwann nach einer Stunde eintrat.

Die Feiertage am Ende des Fastenmonats Ramadan kosten in der Türkei jedes Jahr unzählige Menschen bei Verkehrsunfällen das Leben. Eine Spritztour ans Meer löschte beispielsweise zu Beginn des Fests fast eine ganze Familie aus. Nur ein Insasse der insgesamt sieben (!) konnte schwer verletzt aus dem Pkw gerettet werden.

Neun Tage dauerte der Ramadan und damit auch das Gemetzel auf den türkischen Straßen: 168 Menschen starben und 907 wurden verletzt , lautet die offizielle Bilanz.
Ob dabei auch die fünf Personen gezählt sind, die sich in Malatya buchstäblich um die Vorfahrt prügelten (einer drohte mit einer Kalaschnikow, die er gerade bei der Hand hatte) und die von der Polizei mit Tränengas auseinander getrieben werden mussten, ist nicht bekannt.

Die Deutsche Gesellschaft für Konsumforschung war gerade zu Beginn des Sommers der Frage nachgegangen, aus welchem Land wohl die schlechtesten Autofahrer stammen. 13 % glauben, es wären die Italiener, gefolgt von 12 %, die der Meinung sind, Türken würden nicht ans Steuer gehören. Das löste eine große Diskussion aus und einhellig kam man zu dem Ergebnis, dass es einfach eine Frage sei, wie man gutes Autofahren definiere. Man könne das nicht am Einhalten von Verkehrsregeln fest machen, wie die langweiligen Deutschen.

Dementsprechend wundert es auch nicht weiter, dass gegen das Sterben auf den Straßen nichts unternommen wird. Auch die Medien stellen selten die Frage nach der Vermeidbarkeit von Unfällen. Ob Opfer angeschnallt waren, Kindersitze vorhanden waren oder am Steuer telefoniert wurde, liest  man nie. Dabei kann man überall beobachten, wie Kleinkinder auf dem Fahrersitz transportiert werden, wild gestikulierend telefoniert wird, acht Passagiere in einen Dacia Logan gepresst werden, Kinder von der Ladefläche eines Lasters winken oder auch schon mal von der Hutablage.

Die Eltern des kleinen Tugra wissen jetzt, wie man alles hätte vermeiden können. Das Fahren ohne Fahrerlaubnis in einer gesperrten Straße, die Fahrerflucht, die mangelnde medizinische Versorgung, weil in den Sommermonaten zehn Mal mehr Menschen auf der Insel sind als sie Einwohner hat... Das alles ist nicht das Problem. Statt dessen appellieren sie an alle Eltern: Kauft euren Kindern keine Fahrräder!

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