Montag, 26. September 2011

East meets West

Zehn Jahre Gewalt, Prügel und sogar Verletzungen mit dem Messer hatte Aysel A.  hinter sich, als sie sich mit Veilchen am Auge, ihrer kleinen Tochter an der einen und einem Koffer in der anderen Hand an die Staatsanwaltschaft Ankara wendete. Diesmal hatte ihr Mann angekündigt sie zu töten. Versucht hatte er das bereits zuvor: vor einigen Jahren stand er vor Gericht, weil er Aysel mit dem Messer verletzt hatte. Doch weil sie in letzter Sekunde die Anzeige zurück gezogen hatte, ging er straffrei aus.
Diesmal sollte es anders sein, diesmal wollte sie Schutz. Sie war es leid das schwer verdiente Geld bei ihm abzugeben und geprügelt zu werden, wenn sie sich weigerte. Womöglich war sie vieles andere auch noch leid, was ihr dabei half, die Schwelle zu überwinden. Um so schlimmer muss es für sie gewesen sein, als man sie abwies: weil sie keinen offiziellen Trauschein vorweisen könne, sondern nur eine vor dem Imam getraute Ehe führe, schickt man sie zurück. Mit ihr wurde auch die vierjährige Tochter zurückgeschickt.

Auf der Internetseite www.darisibasina.com erfahren wir mehr darüber, was man sich unter dieser Imam- Ehe so vorstellen kann. Hier wird sie als das natürliche Recht eines jeden Muslimen beschrieben, das vom Westen mit seinen unnatürlichen Gesetzen beschnitten wird. Es wird betont, dass es zum muslimischen Kultur gehört, diese Form der Ehe, die übrigens mit bis zu vier Frauen geschlossen werden kann, zu führen. Und außerdem ist es ein Schutz der Frau und aus Respekt heiratet man sie - nicht wie im Westen, wo die Männer sich verantwortungslos vergnügen.
Offiziell sind die Zweitfrauen allerdings nicht anerkannt in der Türkei, obwohl es weit über 100.000 sein sollen. Aber wer weiss das schon genau  - Belege lassen sich schwer finden. Vor allem im Südosten sollen sie vorkommen. Denn Ehefrauen sind dort kostenlose Arbeitskräfte und männliche Nachkommen ein Muss: notfalls lässt man sie eben von der Zweitfrau gebären. Aber zu glauben, dass es dieses Phänomen nur im "wilden Kurdistan" gibt, wäre falsch. Vor einigen Jahren geisterte ein Bericht durch die Medien, dass ein Berater des Ministerpräsidenten und ehemaliger Vertreter von Milli Görüs in Deutschland ebenfalls mehr als eine Ehefrau habe. Nachdem dies heiße Diskussionen losgetreten hatte, passierte: nichts.

Es gibt wohl kaum jemanden, für den die Kluft zwischen West und Ost so weit klafft, wie für die vor dem Imam getrauten Frauen. Offiziell gelten ihre Ehen nicht und sie können weder von der Familienversicherung profitieren, noch von der Rente,  noch können sie sich scheiden lassen, noch haben sie häufig Recht auf ihre Kinder. Im Fall von Zweitfrauen werden diese meist sowieso auf den Namen der Erstfrau eingetragen. Das bedeutet aber auch, dass frau sie nie besuchen kann, falls das Leben die Kinder ins Ausland verschlägt (immerhin nicht selten bei einem so migrationsfreudigen ehemaligen Nomadenvolk).

Es bedeutet eben auch, dass man keinen Schutz vor einem prügelnden Mann hat, wie wir jetzt gelernt haben. Heißt es jetzt im Fall von Aysel, dass sie ihren Peiniger ehelichen sollte? Eher nein: Die Liste der Frauen, die einen Trauschein besaßen und dennoch bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Behörden keinen Schutz gefunden haben, ist lang. Es heißt, dass täglich drei Frauen in der Türkei durch männliche Gewalt sterben. Viele davon wussten, was sie erwartet, fanden aber keine Hilfe bei dem Versuch dieses Schicksal abzuwenden.

Mittwoch, 21. September 2011

Nix für echte Kerle

Von Fußball verstehe ich nichts, aber wenn man einen Blick auf die Sommer-Emma wirft, wird einem klar, dass man als brave Feministin Interesse daran entwickeln sollte, wie 22 Menschen schwitzend über den Rasen laufen.
40.000 Zuschauerinnen verzeichnete ein Spiel zwischen Fenerbahce und Manisaspor diese Woche. ZuschauerINNEN wohlgemerkt: Nachdem den Fans aufgrund des laufenden Wettskandals wohl das Temperament durchgegangen war und sie den Platz gestürmt hatten,  wurde über den Istanbuler Topverein  eine Sperre verhängt und eigentlich müsste er ohne Zuschauer spielen. Doch clever sind die Herren ja, die Millionen mit dem Ball verdienen und stellten fest, dass Frauen und Kinder eben keine Zuschauer sind. So fand das Spiel vor ausschließlich weiblichem Publikum statt. Ein Novum in der gesamten Fußballwelt und in der Türkei größtenteils gefeiert.
Nur einige wenige Stimmen werden laut, die zwar den Frauen die Freude am männerfreien Fußballgenuss im Stadion gönnen, den bitteren Beigeschmack allerdings nicht schlucken möchten.
Denn eine Begründung, warum Frauen eigentlich keine Zuschauer sind, gibt es nicht.
Bahar Cuhadar schlägt in Radikal ganz richtig vor: Wenn es wirklich um positive Diskriminierung von Frauen gehen soll und Frauen effektiv etwas davon haben sollen, könnten sich die Vereine ja dazu durchringen ein prestigereiches Derby wie beispielsweise Fenerbahce-Galatasaray für Männer zu sperren.
Stimmt. Wenn die Herren der Fußballindustrie das schaffen, nehmen wir ihnen ab, dass sie Frauen als Fans, als Zuschauer oder von mir aus auch als Wirtschaftsfaktor ernst nehmen und nicht nur als bunte Deko eines leeren Stadions. Übrigens: das Spiel würde ich mir dann auch ansehen...

Samstag, 17. September 2011

Time Warp

Viele Menschen wünschen sich durch die Zeit reisen zu können. Historiker träumen davon sich in der Vergangenheit ein direktes Bild einer bestimmten Epoche machen zu können und Antworten auf Fragen finden, die sonst für immer unbeantwortet bleiben würden. Andere wollen bei einer Reise in die Zukunft erfahren, welchen Einfluss die Entscheidungen von Heute auf zukünftige Menschen und Generationen haben werden.
Doch einstweilen sind solche Reisen nur Fiktion und um die Vergangenheit oder die Zukunft einschätzen zu können, müssen wir uns daher weiterhin auf unsere Erfahrung der Gegenwart und die Berichte der Älteren verlassen. 

Ich erinnere mich noch genau, als im Herbst 2004 das neue Türkische Strafgesetzbuch verabschiedet wurde. Für die Frau brachte dies einige Verbesserungen: Sexualstraftaten fielen nicht mehr in den Bereich "Verbrechen gegen die Gesellschaft", sondern "Straftaten, die gegen eine Person gerichtet sind". Damit wurde endlich anerkannt, dass der Körper der Frau der Frau gehört - nicht der Gesellschaft oder ihrer Familie.  

Viele der Änderungen waren mehr als überfällig. Beispielsweise konnte man bis dahin bei sexueller Gewalt an Minderjährigen unter 15 Jahren darauf hoffen, dass diese eingestehen "einvernehmlichen Sex" genossen zu haben. Seit 2004 ist Sex mit Minderjährigen eine Straftat, ohne Wenn und Aber.  

Vergewaltigung in der Ehe ebenso und Morde an Frauen gelten nun auch als Mord und werden auch so geahndet: Bis dahin gab es tatsächlich "mildernde Umstände", weil die Täter anführen konnten, dass sie zur Verteidigung von dem, was sie als "Ehre" bezeichnen, gemordet hatten.  

Und es wurde ein Paragraf abgeschafft, der es Vergewaltigern ermöglichte straffrei auszugehen, wenn sie geloben es wieder zu tun. Und wieder und wieder: Versprach ein Vergewaltiger sein Opfer zu heiraten, dann drohte ihm nämlich keine Strafe. 
Denn: In den Augen der Gesellschaft war die Tat damit ausgeglichen und damit wird auch deutlich, welch wichtiger Schritt es war, dass Sexualstraftaten als Verbrechen gegen die Person, nicht gegen die Gesellschaft oder Familie betrachtet werden. (Frauenrechte)

Natürlich dauert es länger, bis solche Änderungen in der Gesellschaft und in den Köpfen der einzelnen Menschen angekommen können. Letztendlich geht es ja um ein völlig neues Bild der Frau in der Gesellschaft. Das ändert sich nicht von heute auf morgen. 

Von heute auf morgen änderte sich vor allem eines: die Statistiken in Bezug auf Gewalt an Frauen. Zum einen sicherlich, weil immer mehr Frauen den Mut finden und bei Behörden, Staatsanwaltschaft oder Polizei Hilfe suchen. Sicherlich aber auch, weil vieles, was noch vor weniger als einem Jahrzehnt als "normaler Umgang" mit seiner Frau, Schwester, Tochter oder Nichte durchging, heute schlicht und ergreifend ein Verbrechen ist. 

Dabei ist die türkische Justiz bereits hoffnungslos überlastet und der Hohe Rat der Richter und Staatsanwälte, wohlgemerkt eine Institution, die dem Justizministerium untersteht, sucht nach Möglichkeiten die Flut von zu bearbeitenden Fällen einzudämmen. Die scheint nun gefunden: Beispielsweise, so heißt es in einem Bericht, könnte man ja Vergewaltigern Straffreiheit anbieten, wenn diese bereits sind, ihre Opfer zu heiraten. Oder Jugendliche unter 15 Jahren fragen, ob sie nicht doch Spass am Sex hatten. Dann müsste man auch keine Fälle mehr verhandeln, in denen es um Kinderbräute geht... 

Als 2004 das neue Türkische Strafgesetzbuch eingeführt wurde, kam ich aus dem Staunen nicht heraus, was es bis dahin alles für unglaublich frauenverachtende Bestimmungen gegeben hatte. Als ich fast genau sieben Jahre später die Meldung über den Bericht des Hohen Rates in der Tageszeitung Radikal lese, kontrolliere ich tatsächlich das Datum. In der Hoffnung, dass ich aus Versehen in die Vergangenheit gereist bin und nicht einen Blick in die Zukunft werfe. 

Freitag, 16. September 2011

Was ziehen wir heute an?

Es ist so weit: Wenn am 1. Oktober die neue Legislaturperiode im Parlament in Ankara beginnt, so mit geänderten Kleidervorschriften für Frauen. Man höre und Staune, aber bisher war es den Volksvertreterinnen untersagt, in Hosen zur Sitzung zu erscheinen. Ein "Damenkostüm" sahen die Vorschriften vor und mehrere Versuche dies zu verändern, verliefen im Sand.

Aber man möge nicht glauben, dass die Kleiderschriften aufgehoben wurden und Frauen in Kleidung erscheinen dürfen, die bequem ist, ihnen gefällt oder gut steht. Lediglich ist es den Damen nun gestattet, in Stoffhosen statt Röcken zu erscheinen. Denn es geht nicht darum, den Frauen mehr Freiheit in Kleiderfragen einzuräumen. Zurück geht der Antrag nämlich auf die Tatsache, dass die CHP-Abgeordnete Safak Pavey bei einem Zugunglück für vielen Jahren einen Arm und ein Bein verloren hatte. Anscheinend wollten die konservativen Abgeordneten der AKP nicht dem Anblick der  Prothesen der jungen Frau ausgesetzt sein, die durch einen Rock kaum zu verdecken ist.

Dabei nimmt Pavey, die zuletzt bei den Vereinten Nationen tätig war, für sich keine Sonderregelung in Anspruch und hat auch kein Problem damit, ihre Prothesen zu zeigen. Den Antrag unterstützt sie, so wie viele andere Frauen im Parlament, weil es einfach wichtigeres gibt als die Frage, was man trägt. Sie selber wird daher wohl auch in Zukunft im Rock erscheinen, wenn ihr danach ist.

Mittwoch, 14. September 2011

Fummelzug

Konya: Das spirituelle Zentrum der Türkei. Hier befindet sich das Grabmal von Mevlana, dem mystischen Dichter und Mystiker. Nicht wenige kommen um hier zu beten, um ihrer Religion ganz nah zu sein. Vereinfacht wird dies nun durch einen Schnellzug: in nur 1,5 Stunden bringt er Reisende aus der Hauptstadt Ankara in die zentralanatolische Stadt. 306 km vergehen bei einer  Höchstgeschwindigkeit von 300 km/h wie im Flug. Die Türkischen Eisenbahnbetriebe haben damit den Sprung ins 21. Jahrhundert geschafft. Zumindest, was die Geschwindigkeit und die Züge angeht.

Denn gegenüber der Tageszeitung Radikal berichtete eine Gruppe junger Männer, dass sie aufgrund einer sehr erstaunlichen Tatsache nicht in den Genuss des schnellen Zuges kamen: weil sie Männer sind. Nach langer Wartezeit erklärte man ihnen am Schalter kurzerhand, dass nur noch einzelne Plätze frei wären und die alle leider neben Damen zu vergeben seien. Also nichts für Kerle. Das müsse man schon verstehen, für die Frauen wäre es einfach nicht "angenehm", wenn sie neben Männern sitzen müssen.

Das lässt nun aber wirklich Raum für Spekulation. Warum kann eine Frau nicht neben einem Mann sitzen? Also wenn es der eigene ist, da mag man es ja noch verstehen? Man könnte zumindest Gründe erahnen. Aber fremden Männern sollte man doch wohl zugestehen, dass sie tatsächlich nur von Ankara nach Konya kommen möchten und die rasante Geschwindigkeit nicht missbrauchen wollen, um selber so richtig in Fahrt zu geraten...

Montag, 12. September 2011

Sonnenblumen


Wer jemals im Sommer durch die Türkei, beispielsweise durch Thrakien gefahren ist, der kennt sie: Die Sonnenblumenfelder. Wen der Anblick von hunderten dieser Blumen nicht glücklich macht, dem ist wohl nicht mehr zu helfen. Gelb auf Gelb bewachsen sie die Felder und drehen ihre gelben Köpfe in Richtung der Sonne.
Türken lieben es, die getrockneten Kerne geschickt mit den Zähnen zu knacken und das Innere mit der Zunge heraus zu schlecken. Sogar kleine Kinder beherrschen diese - zugegebener Maßen nicht gerade einfache - Technik.
Für die türkische Kultur haben getrocknete Sonnenblumenkerne eine geradezu herausragende Bedeutung. Je weniger Arbeit ein Stadtviertel zu bieten hat, desto mehr Sonneblumenkerne werden konsumiert. Kreisförmig sieht man noch nach Tagen die Spuren, wo immer jemand gesessen und den gesunden Snack verzehrt hat.
Übrigens: 162 Minuten am Tag verwendet der Durchschnittstürke aufs Essen allgemein: das ist weltweit Spitze! Kein Wunder, denn das Verspeisen der Sonnenblumenkerne ist eine Kunst und bis man satt ist, braucht es eine Weile...
Wie wichtig Sonnenblumenkerne für den Türken an sich sind, erkennt man aber auch aus einer Meldung erschienen bei NTV. Zum Trocknen der schwarz-weißen Knabberfreude wurde bei Bursa für einen gesamten Monat eine Umgehungsstraße gesperrt. Bis Ende September werden hier die Samen nämlich getrocknet werden. 
Die derzeitige Regierung wirbt damit, dass sie in den vergangenen neun Jahren 13.500 km Schnellstraße gebaut haben. Wir ahnen jetzt warum. 

Dienstag, 6. September 2011

Antiterror

Nachdem vor zehn Jahren ein bis dahin undenkbarer Terrorakt die Twin Tower des Wolrd Trade Centers zum Einsturz brachte, veränderte das die Welt. Die Fronten zwischen den Weltreligionen verhärteten sich und viele Länder erließen neue Gesetze, um sich besser gegen Terroristen zur Wehr setzen zu können. Insgesamt 35.117 Menschen wurden international aufgrund von Straftaten verurteilt, die als terroristische Aktionen gelten, berichtet das Onlineportal von ntv Türkei. Alleine ein Drittel davon, wer hätte es gedacht, hier zu Lande. Ohne Frage konnten die ermittelnden Behörden große Erfolge verzeichnen, was die Festnahme von Islamisten angeht. Doch die weit größere Gruppe dürfte aus Anhängern der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK bestehen.

Beispielsweise Nacide Tokova. Die Mutter von zwei Kindern wurde auf einer Demo aufgegriffen und zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil sie ein Transparent mit der Aufschrift "Freie Führerschaft und freie Identität oder Widerstand und Rache bis zum Ende" trug. Hoffentlich hat sie ihre Haftzeit dazu genutzt lesen und schreiben zu lernen: Sonst könnte es der Analphabetin wohl wieder passieren, dass man sie wegen eines ähnliches Delikts verurteilt.

12.897 Personen wurden in den vergangenen zehn Jahren in der Türkei als Terroristen verurteilt. Das sind so viele Menschen, wie im beschaulichen Altötting leben. Doch während man sich dort um ein Abwanderung der Bevölkerung sorgt und die Gemeinde immer mehr vergreist, droht dies wohl dem türkischen Terror nicht. Das zeigt der Fall von den vielen Kindern und Jugendlichen, die auf eine Verurteilung warten, weil sie auf prokurdischen Demonstrationen aufgegriffen wurden.

Beispielsweise der Fünfzehnjährige Ö.S. Am 20. Juli 2010 soll er eine Bombe in der Nähe eines Parteibüros der Regierungspartei AKP in Diyarbakir deponiert haben. 14 Monate später, am 6. September 2011, fand die erste Anhörung in den Fall statt. Zurück in die Schule darf der Minderjährige leider nicht. Ein Antrag auf Haftentlassung wurde vom zuständigen Richter mit der Begründung abgelehnt, dass noch nicht alle Beweise zusammengetragen seien. (Bianet)
Sollte Ö.S. eines Tages aus der Haft entlassen werden, steht er vor dem Nichts: die Schule nicht beendet,  in einem Landstrich mit hoher Arbeitslosigkeit und einer Alternative: in die Berge gehen. Zumindest liegt man dort seiner Familie nicht auf der Tasche. Wie auch. Kost und Logis sind frei und das durchschnittliche Lebensalter der Guerilla beträgt 26 Jahre. Beste Kontakte in die Szene kann man wohl auch an keinem Ort so gut aufbauen, wie im Knast. Mehr als jeder zehnte Häftling in der Türkei sitzt wegen Terrorvergehen.

Eines der Lieblingsargumente der Türkei für einen Beitritt in die Europäische Union ist die junge und dynamische Bevölkerung, die Gemeinden wie Altötting frisches Blut und Steuereinnahmen bringen soll. Und sie kommen, die jungen Menschen aus der Türkei. Als Asylanten, weil man sie in ihrem Heimatland, für das sie oft sogar zu sterben bereit wären, nicht annähernd die Rechte gewährt, die jedem Menschen zustehen. Statt einer Schul- und Berufsbildung mit Knast- und Gewalterfahrung.

Schade, dass wir diese Menschen erst kennen lernen dürfen, nachdem sie vom Leben enttäuscht und gebrochen sind.

Montag, 5. September 2011

Ramadan oder Opferfest

Sieben Kilometer lang und vier Kilometer breit ist die Insel Avsa im Marmarameer. Für Türken ein beliebtes Urlaubsziel, von der Großstadt Istanbul aus in wenigen Stunden per Fähre zu erreichen und doch mit nur rund 2000 Einwohnern ein beschauliches Paradies und ideal für den Familienurlaub.

Zumindest dachte sich das eine Familie aus Bursa. Nach dem Frühstück konnte ihr einziges Kind Tugra (8) mit dem Fahrrad umherfahren. Doch an diesem einen Morgen verschwand der Junge aus Sichtweite der Eltern und nach wenigen Minuten begannen sie ihn aufgeregt zu suchen. Finden konnten sie ihn nicht, bis eine erlösende Durchsage sie zur Polizeiwache rief. Doch dort war ihr Kind nicht, auch nicht in der Krankenstation, wohin man sie verwiesen hat. Von dort aus wollte man sie ins Kreiskrankenhaus auf dem Festland schicken, doch dann fasste sich wohl jemand ein Herz und verwies an die örtliche Moschee. Dort zeigte man den entsetzten Eltern den Leichnam des Kindes: Mit hundert Sachen hatte eine junge Frau, die keine Fahrerlaubnis besitzt, das Kind überrast.

Statt zu halten, erste Hilfe zu leisten oder welche zu holen, suchten Fahrerin und Beifahrer ihr Heil in der Flucht, nachdem sie das Auto an eine Wand gesetzt hatten. Schließlich fürchtete man gelyncht zu werden. Tugra lag dort also, auf der für den Autoverkehr gesperrten Straße und wartete auf den Tod, der dann auch irgendwann nach einer Stunde eintrat.

Die Feiertage am Ende des Fastenmonats Ramadan kosten in der Türkei jedes Jahr unzählige Menschen bei Verkehrsunfällen das Leben. Eine Spritztour ans Meer löschte beispielsweise zu Beginn des Fests fast eine ganze Familie aus. Nur ein Insasse der insgesamt sieben (!) konnte schwer verletzt aus dem Pkw gerettet werden.

Neun Tage dauerte der Ramadan und damit auch das Gemetzel auf den türkischen Straßen: 168 Menschen starben und 907 wurden verletzt , lautet die offizielle Bilanz.
Ob dabei auch die fünf Personen gezählt sind, die sich in Malatya buchstäblich um die Vorfahrt prügelten (einer drohte mit einer Kalaschnikow, die er gerade bei der Hand hatte) und die von der Polizei mit Tränengas auseinander getrieben werden mussten, ist nicht bekannt.

Die Deutsche Gesellschaft für Konsumforschung war gerade zu Beginn des Sommers der Frage nachgegangen, aus welchem Land wohl die schlechtesten Autofahrer stammen. 13 % glauben, es wären die Italiener, gefolgt von 12 %, die der Meinung sind, Türken würden nicht ans Steuer gehören. Das löste eine große Diskussion aus und einhellig kam man zu dem Ergebnis, dass es einfach eine Frage sei, wie man gutes Autofahren definiere. Man könne das nicht am Einhalten von Verkehrsregeln fest machen, wie die langweiligen Deutschen.

Dementsprechend wundert es auch nicht weiter, dass gegen das Sterben auf den Straßen nichts unternommen wird. Auch die Medien stellen selten die Frage nach der Vermeidbarkeit von Unfällen. Ob Opfer angeschnallt waren, Kindersitze vorhanden waren oder am Steuer telefoniert wurde, liest  man nie. Dabei kann man überall beobachten, wie Kleinkinder auf dem Fahrersitz transportiert werden, wild gestikulierend telefoniert wird, acht Passagiere in einen Dacia Logan gepresst werden, Kinder von der Ladefläche eines Lasters winken oder auch schon mal von der Hutablage.

Die Eltern des kleinen Tugra wissen jetzt, wie man alles hätte vermeiden können. Das Fahren ohne Fahrerlaubnis in einer gesperrten Straße, die Fahrerflucht, die mangelnde medizinische Versorgung, weil in den Sommermonaten zehn Mal mehr Menschen auf der Insel sind als sie Einwohner hat... Das alles ist nicht das Problem. Statt dessen appellieren sie an alle Eltern: Kauft euren Kindern keine Fahrräder!

Donnerstag, 1. September 2011

Endlich Türkin

27.000 Euro reichen für einen neuen Volvo oder den VW Golf von Kate Middleton auf Ebay. Ca. 27.000 Hunde gibt es in München. 27.000 Tonnen Apfel ergeben 25 Millionen Liter Wein und Saft. Rund 27.000 Tage dauert ein Menschenleben.

In die türkischen Statistiken hat die 27.000 jetzt eine ganz neue Bedeutung gewonnen: Rund 27.000 (!) Fälle von häuslicher Gewalt gegen Frauen sind in den ersten sechs Monaten des Jahres 2011 bei offiziellen Stellen eingegangen, erfahren wir aus der Tageszeitung radikal. Gelistet sind dabei Mord, Körperverletzung, Beleidigung etc., also jede Art von Gewalt. 

Immer mehr Fälle werden verzeichnet und das ist erstmal - gut. Denn noch kann man davon ausgehen, dass einfach mehr Gewalttaten angezeigt werden und in die Öffentlichkeit geraten, als noch vor einigen Jahren. Denn vor allem muss ein Bewusstseinswandel her, damit die Seite drei der Tagespresse sich in Zukunft anderen Themen widmen kann. Denn zum Thema Gewalt und Frauen wird in der Türkei noch lange nicht einstimmig Stellung bezogen. 

Einen ganz erstaunlichen Grund für die schwindelerregend hohe Zahl liefert uns beispielsweise ein Psychiater namens Prof. Dr. Oguz Berksun. Der Dozent an der Ankara Universität weiß: "Frauen brauchen die Gewalt, weil sie aus der Opferrolle Kraft beziehen." Wer hätte das gedacht. Gerne würde man seine Frau fragen, welche Dosis Prügel sie wohl (nach Ansicht ihres Mannes) braucht, um so richtig in Fahrt gen Glück zu geraten? 

Die Suche nach Abhilfe gegen solch bittere Statistiken führt denn auch gern mal auf weitere Holzwege: Lütfü Senocak, seines Zeichens Leiter der Imamgewerkschaft Din-Bir-Sen beispielsweise, riet allen Ernstes, dass Frauen doch nicht sofort zur Polizei rennen sollen wenn der Mann zuschlägt. Manche Sachen sollen eben in der Familie bleiben und müssen nicht an die Öffentlichkeit getragen werden. "Sonst schadet man ja nur der Ehe". Die vorhergehenden Prügel haben der Ehe also genutzt? Ach ja, Frauen brauchen ja die Opferrolle... 

Aber wer glaubt, dass nur Männer sich in aller Öffentlichkeit zu solch kruden Themen hinreißen lassen, der irrt: Auch eine Familienberaterin namens Sibel Üresin, zeitweilig auch auf der Gehaltsliste der Stadtverwaltung, sieht das ganze entspannter. Medienecho erhielt die gläubige Muslima, nachdem sie in einer Fernsehshow feststellte, dass man die Mehrehe (wohlgemerkt natürlich nur für Männer) legalisieren solle, denn die würden ja so oder so fremd gehen. Klar, da sind mehrere Frauen bestimmt eine perfekte Lösung. 

Sie soll in Bezug auf familiäre Gewalt ebenfalls eine ausgeprägte Meinung haben. So wie man seine Kinder schlägt und dennoch liebt, so haut eben auch der Ehemann mal zu - aber das bedeutet ja nicht, dass er seine Frau nicht liebt oder wertschätzt. Nein, wohl nicht. Er hält sie nur für ein dummes, ungezogenes Kind. Wie sie darauf kommt, dass man Kinder schlagen darf hat sie uns bisher (Gott sei Dank) vorenthalten. 

Die Liste der Stimmen, die also versuchen Gewalt an Frauen zu relativieren, ist lang. So mag es auch nicht weiter verwundern, dass vor einigen Wochen eine ehemalige Deutsche, die seit Jahren in der Türkei lebt und die Staatsbürgerschaft angenommen hat, die Prügel ihres Lebensgefährten mit den Worten "Jetzt bin ich eine echte Türkin" kommentierte. 
 
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